Graciela Iturbide: "Eine gute Ausrede, um die Welt zu sehen"

I try to find something poetic in what I’m photographing.
— Graciela Iturbide

Graciela Iturbide ist eine der renommiertesten Fotografinnen Lateinamerikas. Ein tiefes Interesse und Wissen über ihr Heimatland Mexiko, gepaart mit einem außergewöhnlichen visuellen Talent, haben es ihr ermöglicht, ein bemerkenswertes Werk voller Poesie, Magie und Intimität zu schaffen. Von Graciela Iturbide kann man sehr viel über das Finden des eigenen fotografischen Stils lernen.

Neulich fiel mir ein kleines Buch mit dem Titel “Graciela Iturbide habla con Fabienne Bradu”* in die Hände. Es ist eine Sammlung von Interviews, die die französische Schriftstellerin mit der mexikanischen Fotografin geführt hat.

Graciela Iturbide beschreibt in schönen Worten ihre Beziehung zu dem legendären Künstler und Landsmann Manuel Álvarez Bravo (1902-2002), der für sie Mentor und Lehrer zugleich war.

Der Text enthält ausgezeichnete Gedanken darüber, wie man seinen eigenen Stil in der Fotografie entwickeln kann:

  • Finde einen Mentor und lerne von seiner Erfahrung.

  • Beobachten genau und lasse dich von deiner Intuition leiten.

  • Erkenne, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die Beziehung zu deinem Mentor oder Lehrer zu beenden, um als Künstler zu wachsen.

  • Geduldig sein und hart arbeiten.

  • Seie dir deiner Einflüsse bewusst und versuche nicht, Originalität vorzutäuschen – schließlich ist alles schon einmal fotografiert worden.

  • Behandle deine Motive mit Respekt und baue eine Art Komplizenschaft mit ihnen auf, um intime Bilder zu erhalten, die die Essenz eines bestimmten Ortes und seiner Menschen einfangen.

Im Interview sagt Graciela Iturbide über ihre Beziehung zu Manuel Álvarez Bravo, dass er "nie mein Professor oder Lehrer war, sondern eher ein Maestro im weitesten Sinne des Wortes". Indem sie ihn auf seinen Ausflügen in die Natur begleitete, um dort zu fotografieren, lernte Graciela Iturbide, indem sie den erfahrenen Meister beobachtete. Sie sah den Prozess hinter dem Endergebnis – den Abzügen, die später in der Dunkelkammer entwickelt werden.

Sie erkannte, dass Bilder nicht das Ergebnis zufälliger Klicks sind, die scheinbar unwichtige oder isolierte Momente festhalten, sondern dass sie das Produkt all dessen sind, was ein Fotograf im Laufe seines Lebens gelernt hat – nicht nur über Fotografie: Erfahrungen, Überzeugungen oder Einflüsse spielen eine Rolle, wenn er auf den Auslöser einer Kamera drückt.

Auch Dinge, die auf den ersten Blick nichts mit der Fotografie zu tun haben, können als Inspirationsquelle beim Fotografieren dienen: Bei Manuel Álvarez Bravo war es beispielsweise das Hören der Musik von Johann Sebastian Bach.

Die Bilder sind nicht das Ergebnis zufälliger Klicks, die scheinbar unwichtige oder isolierte Momente festhalten, sondern sie sind das Produkt all dessen, was der Fotograf im Laufe seines Lebens gelernt hat - nicht nur über die Fotografie.

Graciela Iturbide sagt, ihr großer Mentor habe ihr nicht nur den technischen Umgang mit der Kamera und Konzepte der fotografischen Komposition beigebracht, sondern ihr auch die Augen für eine ganz neue Welt voller Poesie im kulturellen Erbe ihres Heimatlandes Mexiko geöffnet. Für sie ist es wichtig, einen breiten Wissenshintergrund zu haben und verschiedene Gewohnheiten zu pflegen (Musik hören, Literatur, Malen, Zeichnen usw.), die letztlich den kreativen Prozess der Fotografie fördern.

In dieser Hinsicht war der größte Einfluss von Manuel Álvarez Bravo nicht so sehr, dass er ihr beibrachte, wie man eine Kamera perfekt bedient, sondern dass sie von ihm lernte, sich beim Fotografieren auf ihre Intuition zu verlassen und nicht nur auf ihren Verstand. Und vor allem: Ein Fotograf braucht viel Geduld und muss bereit sein, hart zu arbeiten.

Graciela Iturbide hat nie versucht, ihren Lehrer Manuel Álvarez Bravo zu imitieren. Sie beobachtete ihn sehr genau und zog ihre eigenen Schlüsse über die Techniken der Fotografie und seine Herangehensweise an die Arbeit, die ihr später bei der Entwicklung ihres eigenen künstlerischen Lebens halfen. Sie erkannte, dass es besser ist, seine Einflüsse zu erkennen, als zu versuchen, originell zu sein, denn schließlich ist alles schon fotografiert worden.

Es ist besser, seine Einflüsse zu erkennen, als so zu tun, als sei man originell, denn schließlich ist alles schon fotografiert worden.

Manuel Álvarez Bravo gab Graciela Iturbide den Anstoß, ihren eigenen künstlerischen Weg zu gehen.

Er stärkte ihre Leidenschaft für die Fotografie und gab ihr das grundlegende Handwerkszeug für ihre zukünftige Arbeit. Sie sagt: "Das Wichtigste war, dass ich seine Art, die Welt zu sehen, kennen lernte, und das hat mich tief beeindruckt.

Vor allem Bravos Sensibilität – seine Art, Orte und Menschen aufzusuchen und sie zu fotografieren, "ohne sie zu stören" – hat Graciela Iturbide tief geprägt, wie ihre Arbeit über die Frauen von Juchitan deutlich zeigt. Iturbide gibt zu, dass sie durch die tägliche Arbeit mit einem Meister der Fotografie wie Manuel Álvarez Bravo Dinge gelernt hat, die sie in keiner Schule hätte lernen können.

Doch irgendwann musste sie loslassen und sich von ihrem Mentor trennen.

Graciela Iturbide erzählt, dass es notwendig war, das Gelernte in die Praxis umzusetzen – und dadurch als Künstlerin zu wachsen.

Fotografin durch Zufall

I never realized that I wanted to be a photographer.
— Graciela Iturbide

Graciela Iturbides Faszination für die Fotografie hat ihre Wurzeln in ihrer Kindheit.

Sie erzählt von ihrem Vater, der die Angewohnheit hatte, ständig Fotos von der Familie zu machen. Er bewahrte die Bilder in einer Schublade auf, die für Graciela Iturbide wie ein Schatz war, etwas Mystisches und Magisches, das ihre Aufmerksamkeit erregte und sich tief in ihr Unterbewusstsein einprägte, wie sie gesteht: “Ich wusste nie, dass ich Fotografin werden wollte”, gesteht sie.

Sie hatte einfach schon immer eine Vorliebe für Bilder gehabt.

Dennoch begann Graciela Iturbide ein Filmstudium, anstatt sich der Fotografie zu widmen. Erst durch Zufall lernte sie Manuel Alvarez Bravo kennen, der ihr anbot, seine Assistentin zu werden.

Dieser lebensverändernde Moment ereignete sich, ohne dass sie daran gedacht hatte, Fotografin zu werden:

Getting to know Bravo was a gift that just fell into my lap.
— Graciela Iturbide

Was sie an der Fotografie liebe, sagt Graciela Iturbide, sei die Tatsache, dass es ein Medium sei, das es ihr erlaube, allein zu arbeiten. Etwas, das beim Film nicht möglich ist, denn man braucht eine Reihe von Leuten mit unterschiedlichen Aufgaben, um einen Film zu drehen. Für Graciela Iturbide ist eine Kamera mehr als nur eine Maschine, mit der man Bilder machen kann.

Für Graciela Iturbide ist die Kamera mehr als nur ein Gerät, mit dem man Bilder machen kann: “Die Kamera ist eine gute Ausrede, um die Welt zu sehen”, sagt sie, “die Fotografie ist nicht die Wahrheit”, sondern die persönliche Interpretation des Fotografen über die Welt oder die Dinge (Objekte, Menschen oder Landschaften), die er fotografiert.

Mit anderen Worten: Die Bilder eines Fotografen sind eine Synthese aus seiner Persönlichkeit und dem, was die Szene vor seiner Linse in ihm ausgelöst hat. Graciela Iturbide bezeichnet den Prozess des Fotografierens als “schizophren”. Sie betont, dass es zwei verschiedene Arten gibt, die Welt zu sehen und mit ihr zu interagieren: mit und ohne Kamera. Iturbide erwähnt auch die unbewusste Seite der Fotografie, die ihrer Meinung nach eine sehr wichtige Rolle beim Fotografieren spielt.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, lässt sich der Fotograf bei seinen Entscheidungen von seiner “Vergangenheit” leiten, “von der Welt in dir”, d.h. Faktoren wie persönliche Überzeugungen, Emotionen, Erziehung und andere beeinflussen unbewusst den Prozess des Fotografierens:

  • Wie wird der Bildausschnitt sein?

  • Welche Perspektive wähle ich?

  • Welche Art von Beleuchtung?

  • Welche Orte werden für das Shooting aufgesucht?

Aufgrund all dieser Faktoren ist der Fotograf immer der "Überraschung" und dem "Funken des Erstaunens" ausgesetzt.

Graciela Iturbide und die besondere Beziehung zu ihren "Modellen”

Graciela Iturbide baut eine sehr enge und tiefe Beziehung zu den Menschen auf, die sie fotografiert. Sie geht nicht an einen Ort, macht ein paar Fotos und fährt sofort wieder nach Hause. Stattdessen nimmt sie sich die Zeit, die Umgebung genau kennenzulernen und mit den Menschen zu interagieren. Die Bilder für ihr Buch “Juchitán”* zum Beispiel entstanden über einen Zeitraum von rund sechs Jahren.

Dank dieser Hingabe an Zeit und Mühe, einen Ort und seine Menschen in all seinen Dimensionen zu verstehen, kann Graciela Iturbide die Dinge auf den Punkt bringen und ihre Essenz in ihren Bildern visuell festhalten. So konnte Iturbide “Juchitán mit ihren Augen (der dort lebenden Frauen), aber auch mit meinen entdecken”.

Graciela Iturbide weiß nicht nur, worauf sie sich konzentrieren muss, sondern ihre Hingabe ermöglicht es ihr, die Bilder und Situationen zu finden, die einen Ort und seine Menschen wirklich repräsentieren. Gleichzeitig öffnen sich die Menschen mehr, wenn sie sich mit der Person, die sie fotografiert, wohl fühlen.

Sie nehmen eine andere Haltung gegenüber der Kamera ein, was sich später in intimeren Bildern niederschlägt. Graciela Iturbide sagt, dass es darum geht, in einer Gemeinschaft unsichtbar zu werden, wenn man mit der Kamera unterwegs ist: In ihrer Serie “Juchitán”* erreichte Graciela Iturbide, dass ihre “Modelle” sie akzeptierten und sich im Moment des Fotografierens normal verhielten. Sie fühlten sich ernst genommen, weil ihnen echtes Interesse entgegengebracht wurde. Das ist grundlegend.

Graciela Iturbide sagt, dass ihr Interesse an einem Ort und den Geschichten der Menschen, die dort leben, manchmal wichtiger ist als das ursprüngliche Motiv, das sie zum Fotografieren veranlasst hat.Graciela Iturbide sagt, dass sie lieber auf ein gutes Foto verzichtet, als ein Gespräch mit einer der Frauen in Juchitan zu unterbrechen. Sie nennt “Respekt” und “Komplizenschaft” als die wichtigsten Elemente ihrer Beziehung zu den Menschen, die sie fotografiert.

Bücher von Graciela Iturbide

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