Street Photography im Wandel der Zeit: Authentische Dokumentation vergangener Epochen

Hast du dich schon einmal gefragt, warum du Straßenfotografie machst? Ist es der Spaß daran, flüchtige Momente festzuhalten? Suchst du Entspannung nach einem stressigen Arbeitstag? Oder magst du die Bewegung an der frischen Luft und den Reiz des Spontanen? Unsere Motivation, im öffentlichen Raum zu fotografieren, kann sehr unterschiedlich sein.

Aber hast du dich mit deiner Kamera schon einmal als Chronist gesehen? Als jemand, der soziale, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen festhält? Denn genau das bist du ebenfalls – und erfüllst damit eine wichtige Rolle, die weit über deinen persönlichen Antrieb hinausgeht. Doch anstatt uns dessen bewusst zu sein, plagt uns oft das schlechte Gewissen. Was und wie dürfen wir überhaupt auf der Straße fotografieren? Stichwort DSGVO. Die mit dem Inkrafttreten 2016 verbundene Verunsicherung wirkt bis heute nach.

Dabei haben wir allen Grund, selbstbewusst aufzutreten. Wir brauchen Bilder, die nicht von Überwachungskameras stammen. Mit jedem Foto, das wir auf der Straße machen, schaffen wir Zeitdokumente, die Auskunft darüber geben, wie der öffentliche Raum zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgesehen hat, wie die Menschen darin interagiert haben und wie er sich im Laufe der Zeit verändert hat.

Unabhängig davon, ob man sich seiner Rolle als Chronist seiner Zeit bewusst ist oder nicht, mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass ein Medium wie die Fotografie in der Lage ist, nicht nur einen bestimmten Moment, sondern auch Veränderungen zu dokumentieren. Denn wenn wir auf den Auslöser unserer Kamera drücken, frieren wir Augenblicke ein. Wir machen aus dem Fluss des Lebens ein statisches Bild. Die Zeit wird angehalten. Stillstand statt Wandel.

Der Magnum-Fotograf Alec Soth hat es so formuliert:

Photographs are not good at telling stories. Geschichten brauchen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. They require the progression of time. Photographs stop time. They are frozen and mute.
— Alec Soth

Geschichten, mit denen wir Veränderungen darstellen und begreifbar machen können, brauchen einen Rahmen und Bezugspunkte. Diese können zeitlich, räumlich oder thematisch sein.

Nehmen wir zum Beispiel einen Boxkampf zwischen zwei Jungen, den ich Anfang 2023 auf einer Straße im Zentrum der kubanischen Hauptstadt Havanna fotografiert habe.

Wenn ich nur ein Bild aus der Serie zeige, bleibt vieles verborgen. Jedes für sich ein Straßenbild mit dokumentarischem Charakter. Aber ohne tiefere Geschichte. Offensichtlich geht es um Boxen, die Kämpfer sind noch sehr jung, der Kampf findet draußen statt – viel mehr erfahren wir aber nicht. Um die Situation und die sich entwickelnde Geschichte zu verstehen, brauchen wir zusätzlichen visuellen Kontext.

Wie kann man eine Entwicklung bildlich darstellen? Eine kleine Serie von Bildern, sprich eine Reportage, ist eher in der Lage, eine dynamische Entwicklung und damit Veränderung zu zeigen. Meinem Verständnis nach liegen die Straßenfotografie sowie die Dokumentarfotografie und die Reportagefotografie übrigens sehr nahe beieinander.

In einer Reportage kann ich zeigen, in welchem Umfeld der Kampf stattfindet, mit welcher Intensität gekämpft wird und wer am Ende die Oberhand behält. Diese Veränderung, die hier an einem sehr begrenzten Ereignis (Boxkampf), einem engen zeitlichen Rahmen (ca. zehn Minuten) und einem bestimmten Ort (Zentrum von Havanna) gezeigt wird, kann natürlich auch auf andere Bereiche ausgeweitet werden.

Mehrere Bilder schaffen etwas, was ein einzelnes Bild nicht kann. Letzteres kann unterhalten, amüsieren, emotional packen, verblüffen oder durch einen virtuosen Umgang mit Licht und Grafik faszinieren. Aber über den Moment hinaus sagt es nicht viel aus.

Joel Meyerowitz hat diese Beschränkung des Mediums Fotografie treffend auf den Punkt gebracht:

Fotografie kann alles beschreiben, was vor der Kamera ist. Aber sie kann nicht immer sagen, was es bedeutet. Diese Rätselhaftigkeit ist eine Gabe der Fotografie.
— Joel Meyerowitz

Neben in erster Linie ästhetisch ansprechenden Straßenbildern, denen der Kontext fehlt, gibt es solche, die unter der Oberfläche eine Fülle von Informationen über die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort transportieren. Wie bei einem Eisberg, von dem nur die Spitze zu sehen ist, der aber bis weit unter die Wasseroberfläche reicht. Gerade mithilfe vieler Bilder, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind, lassen sich Veränderungen dokumentieren. Der Bezugsrahmen hinter dem Offensichtlichen wird deutlich.

Dazu folgendes Beispiel. In der heutigen Welt besitzt fast jeder ein Smartphone mit einer leistungsfähigen Kamera. Sie sind allgegenwärtig. Wir haben uns so sehr an den Anblick von Menschen mit Mobiltelefonen in der Hand gewöhnt, dass wir sie kaum noch wahrnehmen – geschweige denn, darin ein spannendes Motiv zu sehen. Was aber, wenn wir in 10 bis 15 Jahren auf diese auf diese Bilder zurückblicken? Wir werden uns fragen, wie es war, als Smartphones aufkamen und die Art und Weise, wie wir kommunizieren und Informationen erhalten, revolutionierten. Und es wird Generationen geben, die nie ein Smartphone, wie wir es heute kennen, in der Hand gehalten haben. Als Straßenfotografen sind wir Chronisten dieser Zeit.

Spannend wird es auch, wenn man die Entwicklung in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen politischen Systemen und gesellschaftlichen Konventionen betrachtet. Bei meiner ersten Reise nach Kuba 2014 fiel mir auf, dass die Menschen vor allem öffentliche Fernsprecher nutzten. In Deutschland hatte damals fast jeder ein Handy, in Kuba waren sie indes noch kaum zu sehen.

Als ich Anfang 2023 nach Havanna zurückkehrte, war das, was für mich inzwischen in Deutschland selbstverständlich ist, in Kuba im Vergleich zu meinem Eindruck von der, lange zurückliegenden, ersten Reise außergewöhnlich. Denn nun haben auch die Kubaner Zugang zu Mobiltelefonen und Internet.

Die Bilder von Menschen an öffentlichen Telefonen entstanden damals eher zufällig. Und zwar, weil ich eine Dissonanz zum Vertrauten wahrgenommen hatte. In der Summe sagen diese Bilder mehr als jedes einzelne von ihnen. Es wird eine Entwicklung in Kuba sichtbar – sowohl technologisch als auch gesellschaftspolitisch.

Obwohl die politische Freiheit immer noch stark eingeschränkt ist und das Internet teilweise staatlicher Zensur unterliegt, ist der Zugang zu Informationen insgesamt größer geworden.

Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, Dinge heute zu fotografieren, damit wir sie später sehen und daraus lernen können. Doch das ist nicht immer einfach. Unsere Wahrnehmung ist selektiv und läuft häufig auf Autopilot. Vertrautes nehmen wir nicht wahr. Wir bemerken auch Veränderungen nicht, wenn sie sich langsam vollziehen. Deshalb ist es wichtig, sich immer wieder zu fragen: Wie kann ich meine Wahrnehmung schärfen und blinde Flecken vermeiden?

Wahrnehmungsverzerrungen sind kognitive Muster, die unseren Blick auf die Welt beeinflussen und trüben. Sie können dazu führen, dass wir bestimmte Dinge übersehen oder falsch interpretieren. In der Straßenfotografie sollten wir uns dieser Verzerrungen stets bewusst zu sein und ihnen entgegenwirken. Die häufigsten sind:

  1. Confirmation Bias: Dies ist die Tendenz, Informationen zu bevorzugen, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen. In der Straßenfotografie könnten wir dazu neigen, nur Motive auszuwählen, die unsere Vorstellungen von der Welt bestätigen und unseren Interessen entsprechen. Um dem entgegenzuwirken, sollten wir offen für andere Perspektiven sein und immer wieder unerwartete Szenen einfangen.

  2. Verfügbarkeitsheuristik: Hier greifen wir auf Informationen zurück, die leicht verfügbar sind. Übertragen auf die Straßenfotografie könnte das dazu führen, nur die offensichtlichen und auffälligen Szenen zu fotografieren. Wir machen uns aber nicht die Mühe, hinter die Motive zu schauen und nach ihrer Bedeutung zu fragen.

Indem wir uns mit Wahrnehmungsverzerrungen auseinandersetzen, können wir unseren Blick für das Alltägliche schärfen und unserer Straßenfotografie einen größeren Rahmen geben. Sie kann dann mehr sein als das bloße Festhalten von flüchtigen Momenten im öffentlichen Raum.

Indem wir Bilder mit historischen Informationen verknüpfen, können wir tiefere Einblicke in Entwicklungen und Veränderungen im Laufe der Zeit gewinnen. Bilder, die in einen zeitlichen Kontext gestellt werden, helfen uns, die Vergangenheit besser zu verstehen. Sie dienen als visuelle Aufzeichnungen vergangener Ereignisse, Kulturen, Lebensweisen und Trends.

Wenn wir Straßenfotografie als Chronik betreiben verstehen und betreiben wollen, erfordert das eine bewusste Herangehensweise.

Hier einige Tipps, wie man sich dieser Aufgabe nähern kann:

  1. Beobachtung und Einfühlungsvermögen: Ein guter Straßenfotograf muss ein aufmerksamer Beobachter sein. Man sollte nicht nur auf die offensichtlichen Momente achten, sondern auch auf die subtilen Gesten und Blicke der Menschen. Auch Einfühlungsvermögen ist wichtig, um die Emotionen und Stimmungen der Menschen einzufangen.

  2. Authentizität: Das Streben nach Authentizität ist elementar. Straßenfotografen sollten die Realität so einfangen, wie sie ist, ohne Szenen zu inszenieren oder den Menschen Anweisungen zu geben. Die Kunst besteht darin, den richtigen Moment zu finden, ohne in die Privatsphäre der Menschen einzudringen.

  3. Kontext: Jedes Foto erzählt eine Geschichte, aber manchmal ist der Kontext entscheidend. Straßenfotografen sollten versuchen, den Kontext in ihren Bildern einzufangen, sei es durch Hintergründe, Umgebungen oder andere visuelle Elemente.

  4. Reflexion: Straßenfotografie erfordert auch Reflexion. Fotografen sollten darüber nachdenken, was ihre Bilder aussagen und wie sie die Vergangenheit für zukünftige Generationen dokumentieren. Diese Selbstreflexion hilft, die eigene Herangehensweise zu verbessern.

Street Photography lädt uns ein, die Welt aus neuen Blickwinkeln zu betrachten und den Wert des scheinbar Banalen zu erkennen. Historische Bilder sind unsere Zeitmaschinen, die uns in vergangene Epochen zurückversetzen oder in der Gegenwart zeigen, was es früher nicht gab. Die Bilder berühmter Straßenfotografen wie Henri Cartier-Bresson, Dorothea Lange oder Vivian Maier zeigen uns nicht nur, wie die Menschen damals aussahen, sondern auch, wie sie lebten, arbeiteten und miteinander umgingen. Sie erzählen Geschichten von vergangenen Zeiten, von Freud und Leid, von Hoffnung und Veränderung.

Dokumentarische Straßenfotografie-Projekte können geplant sein oder intuitiv entstehen. Setze dich intensiv mit deinen Bildern auseinander. Welche Muster fallen dir beim Blick in dein Archiv auf? Erst im Rückblick werden Zusammenhänge deutlich.

Street Photography kann man überall machen. Sie lebt vom Zufall. Im Prinzip kann alles ein spannendes Foto ergeben. Das ist auch gut so und macht den großen Reiz aus. Doch mit der Zeit bilden sich Muster aus dem Meer der scheinbar unzusammenhängenden Bilder. Plötzlich entsteht eine Chronik, eine Geschichte. Wir können Zusammenhänge herstellen. Das meinte Steve Jobs mit „connect the dots“. In seiner inzwischen legendären Stanford-Rede sagte er 2005:

You can’t conncet the dots looking forward; you can only connect them looking backwards. So you have to trust that the dots will somehow connect in the future.
— Steve Jobs

Erst im Rückblick werden Zusammenhänge deutlich. Es lohnt sich also, einen Blick in das eigene Archiv zu werfen. Welche roten Fäden haben sich durch dein Werk gezogen? Zudem bietet sich dir die Gelegenheit, deinen fotografischen Kurs zu überprüfen. Gehst du noch in die Richtung, die dich begeistert, oder ist es Zeit für eine Richtungsänderung? Wenn du dein Thema, deinen Ort gefunden hast, der dich emotional berührt, wird sich das ganz sicher in deinen Bildern widerspiegeln. Du gehst tiefer, investierst mehr Arbeit und Gedanken.

In meinem Fall ist es Kuba und die Veränderungen, die dort stattfinden. Auf meinen bisherigen drei Reisen sind viele Bilder entstanden. Erst langsam beginne ich, die „Punkte“ miteinander zu verbinden.

In der Rückschau kristallisieren sich beispielsweise viele Bilder heraus, die etwas über die Stimmung auf der Karibikinsel erzählen. Die Menschen dort sind zwar seit jeher Entbehrungen und Knappheit bei den nötigsten Gütern gewohnt. Doch trotzdem war 2014 ein leichter Wind der Veränderungen zu spüren. Es gab nicht viel, aber für die meisten genug. Auf den Auslagen der Händler herrscht keine Leere. Zarte privatwirtschaftliche Initiativen wurden erlaubt, vor allem im Tourismus. Und über allem herrschte noch ein gewisser Stolz auf den kubanischen Sonderweg. Fidel Castro war noch am Leben und die Helden der Revolution, allen voran Che Guevara, grüßten von den Fassaden der Häuser.

Aktuell sind Fröhlichkeit und Zuversicht kaum zu spüren. An die Stelle eines charismatischen Staatschefs sind farblose Technokraten getreten, die wenig Hoffnung auf eine Reform des starren sozialistischen Systems machen. Die Menschen wirken mürbe. Glorreich besungen wird die Revolution nur noch in den Geschichtsbüchern. Im Land ist der Lack ab. Vor Geschäften und Marktständen bilden sich lange Schlangen – falls es überhaupt noch Ware gibt. Die Inflation kennt nur eine Richtung, steil nach oben. Wer kann, verlässt das Land.

Ich habe gerade erst begonnen, an den Fäden möglicher Themen zu ziehen und bin noch lange nicht am Ende. Kuba wird mich weiter begleiten. Ich werde in den nächsten Jahren immer wieder dorthin zurückkehren.

Wie sieht es bei dir aus? An welchem Ort oder Thema hängt dein Herz?

Kümmere dich zu Lebzeiten um dein Archiv und frage dich: Was können andere später daraus lernen? Denn nicht jeder hat das Glück, dass sich jemand die Zeit nimmt, sich so intensiv mit dem eigenen fotografischen Nachlass auseinanderzusetzen, wie es bei Vivian Maier der Fall war. Zudem sind digitale Daten flüchtiger als unentwickelte Filme und Negative. Wenn deine Angehörigen die Passwörter nicht mehr kennen oder die Abos für die Cloud-Dienste auslaufen, sind deine Bilder unwiederbringlich verloren.

Betrachte dich als Chronist mit einer Aufgabe und Verantwortung. Bei der Straßenfotografie geht es nicht um die Person. Es geht darum, was die Person mit ihren Eigenheiten, Eigenschaften und ihrem Verhalten im öffentlichen Raum über unsere Gesellschaft als Ganzes aussagt. Der Blick des Straßenfotografens ist deshalb so wertvoll, weil er das Alltägliche in ästhetisch ansprechende Bilder verpackt. Street Photography ist Kunst, Geschichte und soziale Reflexion zugleich und verdient Anerkennung und Wertschätzung als Chronik des Alltags.


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